Leseprobe


1. Die Ankunft


Kriah, Kriah“

Ein schrilles Kreischen riss Tim aus seinen Träumen. Ruckartig setzte er sich auf und rieb sich die Augen. War er tatsächlich eingeschlafen? Er fuhr sich mit beiden Händen durch die strubbeligen braunen Haare und setzte seine Brille zurecht. Dann blinzelte er in die Sonne und streckte sein Gesicht dem frischen Wind entgegen. In den Böen des Windes segelten einige Möwen, bis sie sich im Sturzflug ins Wasser stürzten, um dann mit einem zappelnden silbernen Etwas in den Fängen das Weite zu suchen.

Er wandte seinen Blick. Rechts und links des Schiffes konnte Tim kleinere Inseln erkennen. Dies musste die Inselgruppe sein, die sie auf dem Weg zu ihrem Ziel passieren würden. An der Reling stand seine kleine Schwester Lene. Ihre ständig zerzausten blonden Haare flatterten im Wind, als wären sie genauso aufgeregt wie sie beide. Lene blickte auf einen weißen Streifen, der sich am Horizont zeigte und immer größer wurde. Das mussten die Klippen von Dova sein.

Tim und seine Schwester waren auf dem Weg zu ihrer Tante Ida, bei der sie ihre Ferien verbringen sollten. Sie lebte schon lange auf der Insel Ailoflaif und beide freuten sich schon sehr darauf, ihre gesamte Ferienzeit auf der Insel zu verbringen. Tante Ida wusste immer so viele aufregenden Dinge von dort zu berichten. Außerdem hatte ihre Tante von einer uralten Legende gesprochen, die sich um einen verschollenen goldenen Schlüssel rankte, dessen Geheimnis sie zusammen lüften wollten.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, wandte Lene sich um. Lachend kam sie auf ihren Bruder zu: “Na, du kleiner Träumer?“ fragte sie. „Bist du endlich aufgewacht? Wir sind bald da!“

Tim zog die Jacke fester um die Schultern. Die Kraft der Sonne ließ bereits nach und der Wind hatte aufgefrischt. Das Schiff steuerte weiter auf den weißen Streifen am Horizont zu und mit jedem Stampfen der Motoren des alten Dampfschiffes kamen sie der Insel näher. Tim glaubte über den Klippen einen Schatten auszumachen und kniff die Augen zusammen. Eine Zeitlang konnte er nicht genau erkennen, worum es sich handeln könnte, doch beim Näherkommen entpuppte sich der Schatten als eine Art Leuchtturm, der majestätisch und erhaben über den Klippen trohnte.

Das Schiff hielt weiter Kurs auf die schneeweißen Klippen und schon bald erkannten Lene und Tim in der steil aufragenden weißen Wand, auf die sie zusteuerten, Furchen und Risse. Und noch einige Dampfstöße später sahen sie bei genauem Hinsehen, dass die Wand sich bewegte und zu leben schien: Tausende von Meeresvögeln hatten dort ihre Nester und es herrschte ein reger An- und Abflug.

Sag mal, Tim. Ailoflaif ist doch eigentlich ein ziemlich bescheuerter Name, oder? Hast Du eine Ahnung, was der bedeuten soll?“

Tim zuckte mit den Schultern: “Keine Ahnung. Vielleicht hat er ja gar keine Bedeutung. Wir können ja mal Tante Ida fragen, wenn wir da sind.“

Der Rhythmus der Motoren des Dampfschiffes verlangsamte sich und Tim und Lene bemerkten den langen Steg auf den das Schiff zusteuerte. Er ragte weit ins offene Meer hinein und trotzte mit seinen stabilen Säulen aus Holz den Wellen, die mit lautem Krachen ihre Gischt an ihnen hochspritzen ließen.

Mit Quietschen und Knarzen legte das Schiff längs am Steg an und wurde vertäut. Die Brücke zwischen Schiff und Steg wurde aufgebaut und nun konnten die Passagiere das Schiff verlassen. Tim und Lene sahen sich an, nahmen sich bei der Hand und verließen mit klopfendem Herzen das Schiff. Einerseits aus Vorfreude auf ihre Tante und andererseits aus Aufregung um das Abenteuer, das sie auf der Suche nach dem verschollenen goldenen Schlüssel möglicherweise erwarten würde.

Sie hatten kaum einen Fuß auf den Steg gesetzt, da kam ihnen freudig winkend eine schon etwas in die Jahre gekommene Frau mit Brille und kurzem grau-meliertem Haar entgegen. Tim und Lene begannen zu rennen und riefen erfreut: “Tante Ida! Tante Ida!“ Und schon fielen sie sich in die Arme.

Da seid ihr ja, ihr beiden! Wie schön, dass ihr da seid! Ich freue mich so! Wie war die Überfahrt? Hattet ihr eine schöne Reise?“ Sie umarmte Tim und Lene herzlich und drückte beide fest an ihr Herz. „Kommt mit, ihr beiden! Wir haben uns ja so lange nicht gesehen! Ich freue mich so, dass ich euch endlich meine Insel zeigen kann!“

Zusammen liefen sie über den Steg auf die Insel zu, während die Gischt unter ihren Füßen zwischen den Holzbalken hervorspritzte. Mittlerweile war die Sonne nur noch ein feuerroter Ball und tauchte den Horizont in eine hellrot-orangene Farbenpracht. Der Wind hatte weiter aufgefrischt und Tim zog sich seine Mütze tiefer ins Gesicht. Einige Meter vor ihm gingen Tante Ida und Lene und plapperten und redeten und tauschten all die Neuigkeiten aus, die in den letzten Wochen passiert waren.

Tim sah zu den weißen Klippen hinüber. Erst jetzt bemerkte er, wie steil die Felsen waren, die die Klippen von Dova genannt wurden. Sie waren schneeweiß und fielen aus großer Höhe steil ins Meer hinab. Nur an verschiedenen Stellen färbte die untergehende Sonne sie rosa. Noch während Tim, versunken in dieses Naturschauspiel, beim Weitergehen die Farbenpracht der Felswand bewunderte, war Lene vor ihm abrupt stehen geblieben. Mit grossen Augen deutete sie auf ein riesiges Tor, das in die Felsen geschlagen worden war. Im Bogen des Torrahmens waren Schriftzeichen in den Stein gehauen, die Tim an alte Runen erinnerten. Er trat einen Schritt näher an das Tor heran und versuchte, mit zusammengekniffenen Augen die Schriftzeichen zu entschlüsseln. Das war gar nicht so einfach, denn die Zeichen waren teilweise verwittert von Wind und Salzwasser der nahegelegenen See. C-A-V-U-M O-R-I-S entzifferte er nach einer Weile. Was das wohl bedeuten mochte? Neben den Schriftzeichen bemerkte Tim auf der Innenseite des Torrahmens Darstellungen von verschiedenen fremdartigen Wesen. Sein Blick glitt den Torrahmen entlang und blieb an einem Relief hängen, das sich ganz oben auf dem Tor genau in der Mitte befand. Es schien einen Frauenkopf darzustellen. Das Gesicht war bereits stark verwittert, und Tim glaubte, auf dem Kopf Hörner zu erkennen. Und zwischen den Hörnern eine runde Scheibe. Er rieb sich die Augen. Was sollte das denn sein?! Um das Relief herum waren viele kleine Sterne in den Torrahmen eingraviert, die sich wie ein Schleier um den geheimnisvollen Kopf herumschmiegten... Und auch ein Wort schien über dem Relief eingraviert zu sein. Allerdings war die Schrift schon stark verwittert, so dass Tim sie in der Dämmerung nicht entziffern konnte. Der erste Buchstabe schien ein "B" zu sein... Tim ließ seinen Blick weiter den Torbogen entlang wandern. Er glaubte, Darstellungen von Figuren zu erkennen, die kleinen Feen, Wassermännern, Gnomen und Zwergen ähnelten. Und sollte eines der Bildnisse nicht einen Drachen darstellen...?!

Tim wandte den Blick ab und betrachtete die großen Torflügel. Sie waren aus massivem Eichenholz gearbeitet und mit schweren Eisenbeschlägen versehen. Ehrfürchtig stand Tim vor dem Tor und kam sich klein und unscheinbar vor. Mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen betrachtete er die vielen Darstellungen, die in den Stein gehauen worden waren. Ob es wohl der Schlüssel zu diesem Tor war, dessen Geheimnis zu lüften sie gekommen waren?

Tim erschrak. Etwas berührte ihn an der Schulter. Doch es war nur Tante Ida, die ihre Hand auf seine Schulter gelegt hatte. Sie hatte sein verwundertes Erstaunen beim Anblick des Tores bemerkt und erklärte: “Das ist das Tor zur Höhle Cavum Oris. Wir nennen es das große Haupttor. Es ist schon sehr alt und hinter ihm verbergen sich viele Geheimnisse. So wie alles hier auf der Insel Ailoflaif geheimnisvolle Wunder birgt. Ich werde euch morgen mehr darüber erzählen. Nun sollten wir aber erst mal nach Hause gehen. Bestimmt habt ihr Hunger und seid erschöpft von der Reise. Ruht euch erst mal aus. Morgen machen wir uns dann ausgeruht und gestärkt auf Entdeckungsreise.”

Neben dem Tor führte ein steiler Trampelpfad den Hang hinauf und Lene und Tim folgten ihrer Tante auf dem schmalen Pfad. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, und es wurde ziemlich schnell düster und kalt. Die drei beschleunigten ihren Schritt. “Wir sind bald da”, ermutigte Tante Ida ihre Nichte und ihren Neffen und zeigte etwas weiter den Hügel hinauf. “Dort oben nahe des Bergrückens steht mein kleines Häuschen.”

Der Pfad wandte sich weiter den Hügel hinauf, und auf einmal wurde Lene unbehaglich zumute. Aus dem Augenwinkel heraus meinte sie in der Dämmerung ein riesiges Loch im Fels zu erkennen. Sie zupfte ihre Tante am Ärmel und zeigte verunsichert auf das schwarze Loch zu ihrer Linken, das sie wie ein riesiges Maul zu verschlucken drohte. Tante Ida beruhigte sie: “Keine Angst, das sind die Oar-Höhlen. Darin wohnen nur ein paar harmlose Fledermäuse. Die lassen uns in Ruhe, wenn wir sie auch in Ruhe lassen.” Sie stiegen weiter den Hang hinauf und plötzlich bemerkte Tim einen riesigen Schatten, der sich groß und bedrohlich zu seiner Rechten befand. Er wandte den Kopf und erschrak: Weit oben auf dem Hügel trohnte majestätisch eine Art Gebäude, dessen Silhouette dunkel und düster auf ihn herabzublicken schien. Tim beeilte sich, seine Tante und seine Schwester einzuholen, die schon weit voraus waren. “Hey”, rief er, “wartet doch mal!” Als er die beiden endlich erreicht hatte, fragte er atemlos: “Tante Ida, was ist das für ein Gebäude da oben?”

Das ist die Ruine von Pharos, dem alten römischen Leuchtturm. Er ist Teil von 'Dova Castle', einer jahrhundertealten unterirdischen Festung. Der gesamte Fels hier ist komplett mit geheimen Gängen untertunnelt.”

Und was ist da drin, in den Gängen?” fragte Tim.

In den unterirdischen Gewölben und Tunneln befindet sich die Kommandozentrale der Insel. Wir nennen diese Anlage 'das Zentrum der Macht'. Lord Warrior ist Kommandant der Festung. Ich erzähle euch bei Gelegenheit mehr darüber, aber nun sollten wir uns beeilen, damit wir noch in meinem Häuschen sind, bevor es ganz dunkel wird.”

Lene und Tim beeilten sich, ihrer Tante zu folgen, doch beiden war irgendwie unbehaglich zumute. Das Gefühl des Unbehagens verstärkte sich noch, als sie im Weitergehen an einem kleinen Mäuerchen vorbeikamen, hinter dem sich eine alte verwitterte Kapelle befand, vor der sich verschiedene alte Grabsteine in der einbrechenden Dunkelheit zu grotesken Formen zusammenschlossen. Doch obwohl weit und breit kein Baum zu sehen war, duftete die Abendluft mit einem Mal angenehm nach Waldboden und frischem Moos.

Tante Ida”, keuchte Lene, die versuchte, mit ihrer Tante und ihrem Bruder Schritt zu halten “was ist das hier?”

Ihre Tante verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich vor einem alten Gittertor stehen, von dem das Mäuerchen unterbrochen wurde.

Das hier ist der Friedhof, in dem sich das Grab eines alten Priesters befindet, der zu Lebzeiten vor vielen hundert Jahren als Wunderheiler galt. Einer alten Legende nach werden der Graberde Kräfte zugeschrieben, die verschiedene Krankheiten heilen kann.”

Lene und Tim bekamen große Augen und hielten den Atem an.

Die letzten Worte des Priesters vor seinem Tod lauteten der Legende nach wie folgt:” - hier machte Tante Ida eine kurze Pause und die Spannung von Tim und Lene steigerte sich zusehends. “Nach meinem Tode wird der Lehm, der mich bedeckt, alles heilen, was ich zu heilen vermochte, als ich unter euch weilte.”

Mit einer Mischung aus Staunen und Unbehagen traten Lene und Tim etwas näher ans Tor heran und blickten durch die Gitterstäbe. “Stimmt das denn?” fragte Lene und rückte etwas näher an ihre Tante heran. “Wurde irgendjemand mal mit der Graberde geheilt?”

Tante Ida nickte: “Seit Jahrhunderten kommen viele Pilger auf die Insel, um sich etwas von dieser Graberde mitzunehmen. Denn die Erde aus dem Grab des Priesters heilt tatsächlich...!”

Tim war fassungslos: “Aber wie ist das möglich?! Wie kann denn Erde heilen?!”

Tante Ida lächelte und sagte verschwörerisch: “Das ist eines der vielen Geheimnisse von Ailoflaif. Ihr werdet es selbst herausfinden, wenn die Zeit dazu gekommen ist.”

Weiter sagte sie dazu nichts und ließ Lene und Tim damit im Ungewissen. Stattdessen rief sie: “Aber jetzt sollten wir endlich mal nach Hause gehen, es ist ja schon gleich dunkel!”

Eine uralte Legende von einem verschollenen goldenen Schlüssel, ein geheimnisvolles Tor, Feen, Zwerge, Drachen...! Wo waren sie denn hier gelandet?! Tim und Lene konnten es nicht fassen und noch während sie versuchten, ihre Gedanken zu ordnen, erreichten sie das kleine Häuschen, das ihre Tante ihr Eigen nannte. Und obwohl sie noch tausend Fragen hatten, übermannte sie in der Wärme des kleinen Häuschens plötzlich die Müdigkeit, und nachdem sie in ihren Betten lagen, fielen beide sofort in einen unruhigen Schlaf...